Dienstag, 09. Januar 2018

Neujahrsempfang in der Bürgerschaft

Mit ihrem traditionellen Neujahrsempfang ist die Bremische Bürgerschaft heute in das (politische) Jahr 2018 gestartet. Parlamentspräsident Christian Weber konnte rund 550 Gäste aus Politik, Kultur und Wirtschaft im Festsaal des Hauses begrüßen. In seiner Ansprache blickte Weber zurück auf demokratische Errungenschaften vergangener Generationen und wagte einen Ausblick auf bevorstehende Herausforderungen.

Christian Weber bei seiner Neujahrsrede

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Freunde des Hauses, die Sie uns mit Ihrem Besuch in der Jahresfrühe aufs Neue beglücken,

der Vorstand der Bremischen Bürgerschaft und ich – wir freuen uns sehr, dass Sie wieder so zahlreich den Weg zu uns gefunden haben. Ich gehe davon aus, dass Sie sich dem Parlament, also Ihrer politischen Vertretung, eng verbunden fühlen. Und ich weiß, dass Sie unseren Neujahrsempfang gerne als Kontaktbörse und zum Gedankenaustausch mit Ihrem Nachbarn und Ihrer Nachbarin nutzen. Ja, und ich ahne, dass so mancher von Ihnen die Rede des Präsidenten für überflüssig hält. Also, wenn jemandem der Geduldsfaden reißt, höre ich auf. Eventuell! Aber vorher stehe ich am längeren Hebel; mit einem Mikrofon vor mir und einer Beschallungsanlage im Hintergrund.

Außerdem, meine Damen und Herren, so viele Reden können Sie in den überwiegend stillen Tagen des Jahreswechsels noch gar nicht vernommen haben.
Gut: die Weihnachtsansprache unseres Bundespräsidenten, in der er dazu aufrief, das Vertrauen in die Politik nicht zu verlieren. „Nicht alles Unerwartete muss uns das Fürchten lehren“, sagte Frank-Walter Steinmeier.
Und dann: die Neujahrsansprache der geschäftsführenden Bundeskanzlerin, in der sie zwar betonte, dass die Welt nicht auf Deutschland warte, aber hinzufügte: „Das Ringen um richtige Antworten gehört zu einer lebendigen Demokratie.“
Schließlich: Die wichtigste Rede, eigentlich schon überfällig, steht noch in den Sternen, die Regierungserklärung nach der Bundestagswahl im September 2017.   

Das alles hat mit Geduld zu tun, die Sie alle hier jetzt auch aufbringen müssen. Geduld ist eine sanfte Tugend, deren Wert einer wohl erst zu schätzen weiß, wenn er die Ungeduld überwindet. Heinrich Spoerl hat darüber eine kurze und schöne Geschichte geschrieben: vom jungen Bauer, der es partout nicht abwarten konnte, seine Liebste zu treffen, sie zu küssen, ihr einen Heiratsantrag zu machen, Kinder zu kriegen, reich zu werden und und und … Dabei traf er auf ein seltsames Männlein, das ihm einen Zauberknopf vermachte. Und im Knopfumdrehen konnte er all seine Erwartungen erfüllen – bis in Nullkommanichts sein Leben auf dem Sterbebett verrauscht war. Er erkannte, dass auch das Warten des Lebens wert ist. Und er wünschte sich die Zeit zurück.

Die Zeit zurückdrehen? Vielleicht auf den 24. September 2017? Die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger noch einmal wählen lassen, damit die Verhältnisse klar sind. Aber klar für wen und für was? Nein, die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Aber man kann sich an Zeiten erinnern, an besondere Zeiten. Und Zeit zum Erinnern sollte man sich allemal nehmen.

Meine Damen und Herren, blicken wir 200 Jahre zurück: Karl Marx wurde geboren. In einer Phase, als in Europa eine Epoche permanenter Kriege endete, sich Teile der Bevölkerung immer stärker politisierten, viele andere in Folge der beginnenden Industrialisierung verarmten, verelendeten. Der Philosoph Marx fiel durch radikale Kritik an der bürgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auf – vor allem durch seinen daraus abgeleiteten Aufruf an das internationale Proletariat zum Klassenkampf – gegen Unterdrückung der Massen und für Freiheit. „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ Karl Marx und sein Werk waren über Jahrzehnte vernachlässigt und verpönt; aktuell werden beide wieder zitiert und hofiert. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete Marx kürzlich als „Superstar“, und die Deutsche Bahn wird einen neuen ICE nach ihm benennen. Woher rührt die Renaissance dieses kommunistischen Theoretikers und Schriftstellers? Nun, die schlimmsten Auswüchse des herrschenden Kapitalismus sind inzwischen auch für Wohlbehütete und Gutsituierte im System nur noch schwer zu ertragen: die fortwährende Steuerhinterziehung von Vermögenden und von Firmen in unvorstellbaren Milliardenhöhen etwa; oder der moderne Sklavenhandel, der dazu führt, dass beispielsweise für einen einzelnen Fußballspieler eine Ablösesumme von 222 Millionen Euro gezahlt wird. Das alles ist unanständig, verwerflich, asozial. Karl Marx sagte das im „Kommunistischen Manifest“ vorher. Ich zitiere: „Die Bourgeoisie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die einer gewissenlosen Handelsfreiheit gesetzt.“ Mit den Nachlässen von Marx können die Menschen auch bei uns wieder etwas anfangen.

Meine Damen und Herren, versetzen wir uns nun in die Zeit vor 100 Jahren: Am 9. November 1918 rief das SPD-Regierungsmitglied Philipp Scheidemann die deutsche Republik aus. In Berlin sagte er: „Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue!“ Fast gleichzeitig proklamierte Karl Liebknecht eine sozialistische deutsche Republik, konnte sich damit aber letztlich nicht durchsetzen. Der Sozialdemokrat Scheidemann galt fortan als eine der Symbolfiguren der „Weimarer Republik“, deren Anhänger bisweilen „Scheidemänner“ genannt wurden. Es waren vor allem Massenarbeitslosigkeit, Kriegsschäden und die   Reparationszahlungen nach dem Versailler Vertrag, die die Handlungsfähigkeit der Reichsregierungen einschränkten und schwer auf der jungen Demokratie lasteten. Gleichwohl erwies sich die neue Verfassung als stabilisierendes, progressives Element. Reichsweit wurde das Wahlrecht eingeführt, auch für die Frauen. Ich zitiere aus dem Buch von Volker Weidermann „Träumer – als die Dichter die Macht übernahmen“, das sich mit der politischen Situation von September 1918 bis April 1919 in München befasst: „Also Wahlen. Die ganze Stadt auf den Beinen, im Sonntagsstaat, verkleidet für die junge Demokratie. Erstmals durften auch Frauen wählen. Und sie wählten in großer Zahl. Einige Männer sah man, die die Stimme auch für ihre zu Hause gebliebene Frau abgeben wollten. Das ginge nicht, mussten sie erfahren. Wahlgesetz. Jeder muss selbst wählen oder gar nicht. Aha. Leichte Verstimmung, Komische Demokratie. Aber bitte, wenn das die Regeln sind.“ Zitatende. Das ist eine zu schöne Geschichte in einer Erzählung, von der behauptet wird, dass nichts erfunden worden sei.

Die Weimarer Verfassung enthielt einen Grundrechtskatalog, der unter anderem „jedem Deutschen“ seinen „notwendigen Unterhalt“ zusicherte, die „staatsbürgerliche“ Gleichberechtigung von Männern und Frauen und vollständige Religionsfreiheit versprach, die Vertretung von Arbeitnehmern in „Betriebsarbeiterräten“ vorsah und die Möglichkeit der Verstaatlichung von Betrieben eröffnete. Nach den ersten Krisenjahren zeichneten sich Erfolge in der Außen- und Innenpolitik und eine Phase der Stabilisierung ab. Trotz brüchigen Friedens erlebte die Republik in den „goldenen 20er Jahren“ nicht nur eine Spanne wirtschaftlicher Konsolidierung, sondern auch eine Blütezeit in der Kultur und Wissenschaft.

All das sind die Leistungen einer demokratischen Ära, die es lohnt zu bewahren. Die Weimarer Republik verdeutlicht allerdings auch die Wege des Scheiterns: Wenn im Schatten von wirtschaftlichem Niedergang die Arbeit und Fürsorge schwinden, sozialer Abstieg und Armut folgen, Regierungen zerbrechen, Parteiensysteme zerfasern und es zu politischen Unruhen kommt, dann schlägt die Stunde der Rechtsradikalen – oder damals der nationalsozialistischen Bewegung. Demokratie, das wissen wir heute nur zu gut, ist kein Selbstläufer. Demokratie bedarf einer wachsamen, mutigen Grundhaltung, unterfüttert von beständiger Demokratiebildung.

Wir haben heute allen Grund, Respekt vor unserer Staatsform der Demokratie zu haben - mit dem Grundgesetz und sozialer Marktwirtschaft, die wie keine andere uns Wachstum und Wohlergehen ermöglicht, die uns individuelle Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung garantiert, die nach Ausgleich und Gerechtigkeit strebt. Wir haben allen Anlass, der Demokratie etwas zurückzugeben: Aufmerksamkeit und  Achtung!        

Meine Damen und Herren, was war vor 50 Jahren? Nun, 1968! Eine rebellierende, revoltierende Jugend, die 68er, die sich gegen starre Strukturen, Nichtaufarbeitung der Nazi-Zeit, Vietnamkrieg und überhaupt gegen das Miefige, Spießige, Enge, Biedere und Korsetthafte auflehnten. In Bremen traten am 14. Januar die Fahrpreiserhöhungen um 15 Prozent für Bus und Bahn in Kraft. Sie sollten von sehr kurzer Dauer sein. Zehntausende von jugendlichen Demonstranten gingen auf die Straße und blockierten Fahrbahnen. Betriebsräte und sogar Geschäftsleute solidarisierten sich, in der „Lila Eule“ forderte der Sozialistische Deutsche Studentenbund, das Rathaus zu stürmen und die Räterepublik auszurufen, beinahe jeden Tag Proteste und die Losung der Polizei „Draufhauen und Nachsetzen“, anlässlich der dritten Lesung der Notstandsgesetze im Bundestag wurde das Gymnasium Hamburger Straße besetzt. Bremische Revolution – spontan, heftig und punktuell. „Revolution“, sagte Rudi Dutschke, einer der führenden Köpfe der 68er-Studentenbewegung, „ist nicht ein kurzer Akt, wo mal irgendwas geschieht und dann ist alles anders. Revolution ist ein langer komplizierter Prozess, wo der Mensch anders werden muss.“ Dutschke wurde am Ende das Opfer eines Kommunistenhassers. Ein real existierender Kommunismus: Auch das waren die 68er: Im August 1968 rückten des Nachts Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein und erstickten den sogenannten „Prager Frühling“ gewaltsam. Damit wurde nach dem Volksaufstand in der DDR 1953 und dem Aufstand in Ungarn 1956 erneut eine Freiheits- und Demokratiebewegung im Osten Europas niedergeschlagen. Wir werden uns in einer Sommer-Ausstellung hier in der Bürgerschaft damit beschäftigen.
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Die 68er haben unsere westliche Gesellschaft und deren   Moralvorstellungen jedenfalls verändert – und Wahrhaftigkeit im Umgang mit unserer Geschichte bewirkt. Die Generation der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen ist ihren Eltern auf die Pelle gerückt, hat sie bedrängt, sich zu offenbaren, zu bekennen: Was habt ihr eigentlich gemacht, als Hitler die Macht erhielt und ausübte? Was habt ihr dagegen getan? Man kann es heute als Offenbarung bezeichnen, dass die 68er damals die Konfrontation riskiert haben. Gut, dass wir heute meinen und glauben dürfen, was wir wollen, dass wir uns kleiden, wie es uns passt und dass wir ins Bett gehen dürfen, mit wem wir möchten – bitte, auch dafür sei den 68ern gedankt. Und wenn ich ehrlich bin, waren ihre anstiftenden, aufrührerischen, machohaften, aber gewaltfreien Wortführer, die gegen Diskriminierung der Frauen, der Arbeiter und Ausländer, gegen Vietnam und US-Imperialismus kämpften, geradezu Leuchttürme im Vergleich mit den heutigen Demagogen – ganz  zu schweigen von den rechtspopulistischen Volksaufwieglern.  

Meine Damen und Herren, was sagen mir diese Ausflüge in die Vergangenheit? Erstens, politisch in großen Zusammenhängen zu denken und zu handeln, zweitens, nach allen Seiten offen zu sein, selbst wenn man die eine oder andere schlechte Seite bekämpfen muss, drittens, den Wert der Demokratie zu erkennen und für unsere Demokratie dankbar zu sein. Und viertens: Gute Reden und Schriften wie die von Marx, Scheidemann und Dutschke rütteln auf.

Gute Redner können die Welt verändern. Ich meine natürlich  nicht die Hetz- und Hassauftritte wie die von Hitler, Goebbels oder Stalin. Ich meine die guten und klugen Reden. Denken Sie an Winston Churchill im Mai 1940: „Ich habe nichts anzubieten außer Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.“ John F. Kennedy 1961: „Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann; frage, was Du für Dein Land tun kannst.“ Derselbe 1963 an der Berliner Mauer: „Ich bin ein Berliner!“ Indira Gandhi 1974: „Die Bildung für Frauen ist wichtiger als die Bildung von Jungen und Männern.“ Oder Richard von Weizsäcker 1985, als er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung deklarierte: „Wir müssen die Vergangenheit annehmen.“

Was können wir also von der Regierungserklärung aus Berlin erwarten, wann immer sie kommen mag? In einer Lage, in der die Nation schwankt zwischen der Hoffnung auf Veränderung und dem Bedürfnis nach Weiter-so und Sicherheit, die ein Urbedürfnis des Menschen ist, das sich ausgerechnet durch jede Veränderung gefährdet sieht. Man kann es auch anders ausdrücken: „Was ist bloß los in Deutschland?“ titelte kürzlich die Neue Zürcher Zeitung. Die Diagnose: Gute Lagen werden schlechtgeredet, sich aufstauende Probleme ignoriert. In der Tat: Die Unzufriedenheit im Wohlstandswunderland nimmt generell zu, wie der Zukunftsforscher Horst Opaschowski feststellte. Der Glücklichsein-Faktor ist offenbar ausgereizt. Lähmender Frust im Überfluss?

Andererseits wird auch in Deutschland der Ruf lauter, einen Strukturkonservatismus zu überwinden und ein neues Gesellschaftsmodell zu entwerfen. In einem schönen Liedtext von Udo Lindenberg heißt es: „Seinen alten Kumpel Hoffnung hält er fest. Wir wollten doch die Welt verändern – irgendwann. Und er fragt sich, ob er mit seinen Liedern überhaupt was erreichen kann. Wir wollten doch die Welt verändern – irgendwann. Sag mir wann?“
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Packen wir es also endlich an? Es ist wohl leichter gesagt als getan. Franz Kafka gab einmal den Rat: „Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach Hindernissen, vielleicht ist keines wirklich da.“ Frau Merkel meinte in ihrer Neujahrsbotschaft, die Welt warte nicht auf uns. Das mag sein. Die Deutschen und die Europäer schauen aber dieser Tage nach Berlin. Was mag, was muss die Regierungserklärung offenbaren?    
Ich versuche einen persönlichen Entwurf, möglichst überparteilich, eher dem gesunden Menschenverstand gehorchend. Es sollen lediglich Schlaglichter sein.

Arbeit, die eine Seite: Die alte Erwerbslosigkeit mag ja nicht mehr so das drückendste Problem sein in Zeiten, da die Konjunktur brummt und Überhitzung droht. Aber die neue liegt längst auf der Lauer. Bis 2030, so Prognosen, sollen weltweit 800 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen. Technologiekonzerne wie Siemens erfinden sich neu, in der Bankenwelt ist jeder zweite Arbeitsplatz überflüssig. Und Roboter und Algorithmen werden die Produktion übernehmen. Und das auch im Exportweltmeisterland Deutschland, etwa in der Autoherstellung, unserem Schlüsselgewerbe. Das sind revolutionäre, insbesondere digitale Prozesse, wenn im Moment auch noch schleichend, die politisch jetzt gesteuert und gestaltet werden müssen. Vor allem, weil der Mensch nicht unter die Räder kommen darf und bei allen, auch angstmachenden Veränderungen Wohlstand und Gerechtigkeit gewahrt bleiben sollen.

Arbeit, die andere Seite: In vielen Berufen, die den Menschen sehr nahe sind, herrscht inzwischen ein eklatanter Mangel an Fachkräften: Erzieher etwa oder Altenpfleger. Das wundert nicht, weil es hier an Wertschätzung mangelt – sowohl ideell wie materiell – bei Bruttoeinkommen unter 2000 Euro monatlich. Es kann nicht sein, dass in Dienstleistungsbranchen, die am wenigsten direkt mit den Menschen zu tun haben, etwa auf dem Finanzsektor, die Entlohnung um ein Vielfaches höher liegt, als die in der sozialen, mitmenschlichen Betreuung, die zunehmend an Bedeutung gewinnt. Hier ist Umsteuerung dringend geboten – gesellschaftliches Umdenken und Umwerten.

Bildung: Jeder fünfte Viertklässler bei uns kann nicht richtig lesen. Diese Schwäche in einer grundlegenden Kulturtechnik  muss uns wach- und aufrütteln! Die Ausgaben und Anstrengungen sind für ein vermeintlich hochentwickeltes Land wie die Bundesrepublik erschreckend gering – und zwar solange, bis nicht überall Schulgebäude in einem ordnungsgemäßen, annehmbaren   Zustand stehen und der Unterricht über alle Klassen und Fächer verbindlich organisiert ist – bis in die sogenannten weichen Fächer hinein, von Geschichte über Musik bis zur politischen Bildung. Dabei sind Förderungsbedürftige und sozial Benachteiligte sowie Schulen in sogenannten Problemvierteln zusätzlich zu fördern. Bei alledem bevorzuge ich Schultypten, in denen die Kinder möglichst lange gemeinsam lernen – und das nicht nur von Lehrkräften, sondern untereinander. Wenn heute allerorts über Fachkräftemangel geklagt wird, wundert es mich nicht. Denn jeder achte junge Mensch bleibt in unserem Land ohne Berufsausbildung. Die Bundesanstalt für Arbeit geht davon aus, dass in Deutschland jährlich 300 000 qualifizierte Köpfe aus dem Ausland benötigt werden. Schon aus diesem Grund ist es unerlässlich, ein Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen. Denn damit lassen sich gezielt Fachkräfte anwerben. Das Einwanderungsgesetz gehört in die Regierungserklärung.

Armut: Sie ist in verschiedenen Regionen Deutschlands unerträglich hoch, nicht nur in Bremen und Bremerhaven. Armut ist nicht nur ein Armutszeugnis für eine eigentlich reiche Gesellschaft, sondern ein Substanzverlust, der alle trifft. Im Besonderen, wenn Kinder und damit die Säulen der Zukunft leiden. In Deutschland zählen wir 2,7 Millionen Jugendliche, die in Armut aufwachsen. Das betrübt mich. Gegenüber dem Weser-Kurier habe ich mich für eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes als Grundsicherung ausgesprochen. Davon müssten die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen stärker profitieren als die mit hohen Einkommen. Zu dieser Forderung stehe ich. Und ich hoffe, dass die Diskussionen darüber in Taten enden! 

Europa: Wenn sich die Mitglieder der EU behaupten und handlungsfähig bleiben wollen in der globalisierten Welt, führt der Weg nicht über Kleinstaaterei und Sezession, sondern über höchstmögliche Gemeinsamkeit. Wirtschafts- und Währungsunion, Außen- und Verteidigungspolitik, Integration und Sozialstandards – all das verlangt nach übergeordneten Lösungen. Und nichts funktioniert ohne Deutschland. Prof. Michael Gehler von der Universität Hildesheim spricht von einem – frei nach Kant – kategorischen Integrationsimperativ. Europäisches Einwanderungsgesetz, Asylrecht, einheitlicher Sozialfonds – die neue deutsche Regierung sollte sich rasch in die Position des Vorreiters und Mitstreiters begeben. Viele Kompromisse werden nötig sein – und Durchhaltevermögen! Auch dann, wenn die rote Karte gezogen werden muss, denn Länder mit einer entleerten demokratischen und rechtstaatlichen Ordnung dürfen nicht Vollmitglied der EU sein.            
Ich könnte noch weitere Themen nennen, die in eine bewegende Regierungserklärung gehören: Wohnungsbau, Klimawandel, Sicherheit. Aber ich will es dabei belassen. Denn, meine Damen und Herren, es ist Zeit für den Schlussakkord! Ein besonderes Stück, so unerlässlich wie der Radetzkymarsch zum Abschluss des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker: die Nennung und Würdigung unserer Gäste im Einzelnen.

Ihnen allen, meine Damen und Herren, danke ich von Herzen für Ihr Engagement zum Wohle unseres Bundeslandes, unserer beiden Städte. Ich freue mich für Sie, dass Sie sich – zumeist - gut um sich und Ihre Aufgaben kümmern können. Und ich schätze Sie, weil Sie sich vor allem auch um andere kümmern und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Soziale Netzwerke zu knüpfen und Vertrauen in Mitmenschen aufzubauen, ist eine Stärke für unsere bremische Zivilgesellschaft. Toleranz und Offenheit in unseren Städten sind sicherlich auch unserer stadtrepublikanischen Tradition geschuldet, mit dem Hang zur Öffnung und Öffentlichkeit. Das „Wir“ in Bremen, das hat jetzt eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung gezeigt, ist in der Freien Hansestadt Bremen offenbar weiter gefasst als in anderen Regionen. Es reicht über die eigene Familie, über das Milieu, in dem man sich täglich bewegt, weit hinaus. „Wir“ in Bremen: Es bedeutet das Bekenntnis zur Zusammengehörigkeit und immer wieder den Versuch, über weltanschauliche, religiöse, kulturelle und soziale Differenzen hinweg gemeinsam und demokratisch zu handeln. Sich anderen mitteilen können, am Gesamten teilhaben, das macht uns stark, belastbar auch für notwendige Veränderungen. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie ein aktiver und fördernder Teil unserer solidarischen Gemeinschaft sind.

Ich wünsche Ihnen ein gutes, gesundes, glückliches Jahr 2018, das zu großen Erwartungen und Hoffnungen Anlass geben möge. Die Vernunft und die Vorsicht im Menschen werden zu verhüten wissen, um noch einmal auf den Zauberknopf am Anfang meiner Rede zurückzukommen, dass zwei Rumpelstilzchen in Nordkorea und USA mit ihrem Krieg der Knöpfe wirklich ernst machen. Darauf vertraue ich!  Verzeihen Sie mir, wenn ich die Geduld des einen oder anderen von Ihnen arg strapaziert haben sollte. Ich sehe das so: Es waren 25 Minuten statt der sonst üblichen halben Stunde, die ich gesprochen habe. Ich habe Ihnen keine Zeit gestohlen, sondern Ihnen 5 Minuten geschenkt!

Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit!


Hier können Sie die Rede als pdf-Datei herunterladen. Es gilt das gesprochene Wort!