Donnerstag, 16. Januar 2014

Der Erste Weltkrieg und die Lehren daraus – Prof. Elmshäuser spricht auf dem Neujahrsempfang des Senats

Eine bemerkenswerte Rede zum Ersten Weltkrieg vor 100 Jahren hat der Leiter des Bremer Staatsarchivs, Prof. Konrad Elmshäuser, während des Neujahrsempfangs des Bremer Senats am 15. Februar gehalten. In den Medien ist sie bisher auf wenig Resonanz gestoßen, auch deshalb steht sich ab heute auf unserer Homepage. „Es ist erschreckend, aber wahr: Man war wenig geneigt, Europa einen Frieden zu erhalten, der zu wenig Nutzen versprach. Dies umso mehr, als die Staatenwelt im Zeitalter des Imperialismus grundsätzlich in Kategorien von Herrschaft und Knechtschaft, Triumph und Untergang dachte“, heißt es im Redetext. Etwas Weiteres komme hinzu: Das Fehlen einer festen politischen oder wirtschaftlichen Verflechtung der Staaten. Diese, so Elmshäuser, dachten nicht über Militär- und Beistandsbündnisse, dynastische Bande und rein national-egoistische Wirtschafts- und Handelsinteressen sowie koloniale Einflusszonen hinaus. „Dies sollte all jenen zu denken geben, die den Institutionen unserer heutigen hochkomplexen, vernetzten und multinational verbundenen Welt gerne vorschnell die Funktionstüchtigkeit absprechen - wegen ihrer zahllosen Gremien, Ausschüsse, Vetoeinrichtungen, Kommissare und Sekretäre. Wer die Dokumente zum Juli 1914, die Dossiers, Telegramme und Depeschen liest und weiß, welche Wirkung sie entfalteten, der wird erkennen, was uns die heute oftmals gescholtenen Einrichtungen wie UN oder EU wert sein sollten.“

Foto von Herrn Professor Doktor Elmshäuser am Rednerpult

Prof. Dr. Elmshäuser beim Neujahrsempfang der Senatskanzlei der Freien Hansestadt Bremen (Foto: Senatskanzlei)

Im Folgenden lesen Sie die Rede vom Prof. Dr. Konrad Elmshäuser, Leiter des Bremer Staatsarchivs, anlässlich des Neujahrsempfangs des Bremer Senats im Rathaus am 15. Januar 2014 (ein PDF-Dokument zum Herunterladen finden Sie am Ende der Seite):

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Im vergangenen Jahr wurde der Neujahrsempfang des Senats mit dem 100. Geburtstag des Neuen Rathauses, einem kulturhistorischen bedeutenden Ereignis, verbunden.
Fast genau ein Jahr später schauen wir wieder 100 Jahre zurück. Doch sind die Umstände der Erinnerung an das Epochenjahr 1914 ganz andere. Fast nichts scheint das heitere Jahr 1913 mit dem tragischen Datum 1914 zu verbinden. Und doch gehören sie zusammen.
Dies verrät uns auch heute noch sogar das Neue Rathaus selbst, das nicht nur kulturell ein Kind seiner Zeit, sondern auch politisch ein Teil des wilhelminischen Kaiserreichs war.
In ihm hat der Münchner Architekt Gabriel von Seidl ein Turmzimmer entworfen, das nur vom Festsaal aus zugänglich und reich mit Marmor ausgestattet ist. Es ist als „Altar des Vaterlandes“ dem Herrscher, Kaiser Wilhelm II. gewidmet - ein Medaillon an der Wand erinnert noch heute daran.
Wäre das Neue Rathaus ein Märchenschloss, dann wäre das Turmzimmer die verwunschene Kammer. Nur sie erinnert noch an den alten Vorfahr, mit dem der Bau des Schlosses und zugleich ein dunkles Geheimnis verbunden ist.
Höhepunkt und Wende, Glanz und Elend des wilhelminischen Deutschland drücken sich in dem kleinen Bremer Turmzimmer sinnfällig aus. Nur ein einziges mal – eben im Jahr 1913 - sollte der Kaiser selbst den Festsaal und seinen Altarraum betreten. Schon im Folgejahr 1914 blieb dem Kaiser auf dem Weg zu seiner Flotte in Wilhelmshaven keine Zeit mehr für einen längeren Stopp in Bremen – die Zeit der Festempfänge war vorbei.
Was 1914 niemand ahnte: dieses Jahr sollte die Welt verändern. Für vier riesige und scheinbar unerschütterliche Kontinentalmächte – die Monarchien Deutschland und Österreich-Ungarn, das Russland der Zaren und nicht zuletzt das Osmanische Reich war es der Anfang vom Ende.
Der Erste Weltkrieg gilt zurecht und vielfach in den Medien so bezeichnet als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Dieser Tage scheint uns dies wieder bewusst zu werden, wenn er auch zuletzt in Deutschland kaum mehr als zentral wichtiges Ereignis des 20. Jahrhunderts wahrgenommen wurde. Dies hat Gründe, die nicht im Jahr 1914 liegen, sondern in allem, was danach kam:
Kapitulation, Novemberrevolution, Weimarer Republik, NS-Diktatur, Zweiter Weltkrieg und Deutsche Teilung haben die kollektive Memoria so sehr beherrscht, dass der Untergang des Kaiserreichs kaum noch Stoff für Antworten oder auch nur Fragen herzugeben schien.
Zudem war man lange nur zu gerne bereit zu glauben, was der britische Premier Llloyd George im Rückblick zu seinen Ursachen geäußert hatte:
Man sei 1914 eben in den Krieg „hineingeschlittert“.
Weltgeschichte als diplomatischer Betriebsunfall.
Kann dies so gewesen sein? Wir wissen schon längst: Wohl kaum.
Auch Ahnungslosigkeit wird man den am Zustandekommen des Krieges Beteiligten nicht unterstellen müssen. Sie wussten sehr wohl, was auf Europa zukam, auch wenn wohl niemand die Tragweite ganz erfasste. Dies unterstreichen zahllose Quellen. So schrieb der letzte Kanzlers des Kaisers, Prinz Max von Baden, der 1918 den Rücktritt Wilhelms II. erzwingen und das Reich an Friedrich Ebert übergeben sollte, nur drei Tage nach der Mobilmachung im August 1914 an einen Freund:
„Ich konnte nicht daheim bleiben, wo die Blüte unseres Landes, all unsere braven Soldaten, hinausziehen in diesen blutigen Krieg. Denn es wird ein furchtbarer und mörderischer Krieg, da ist kein Zweifel möglich.  (...) Aber bis jetzt geht es mir eigen mit diesem Krieg, er erscheint mir völlig unwahrscheinlich.“
Unwahrscheinlich? Auch wenn Max von Baden, wie der Bremer Historiker Lothar Machtan jüngst in einer neuen Biographie ausführte, kein allzu typischer Vertreter der wilhelminischen Staatselite war, in einem dürfte seine aus klarer Prophetie und naivem Unglaube gemischte Äußerung typisch sein:
Man hatte mit dem Feuer gespielt und kaum geahnt, welchen Brand man entfachte.
Dass mit dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni und dem österreichischen Ultimatum an Serbien die Kriegsgefahr real geworden war, hatte man überall in Europa schnell begriffen. Dass dies angesichts der Rüstungsmaßnahmen der letzten Jahrzehnte und der riesigen Heere, die sich gegenüberstanden, der Auftakt zu einem mörderischen Krieg sein würde, war ohne viel Phantasie auszumalen.
Anders als 1939, als ein Krieg unter den Bedingungen einer Diktatur ohne öffentliche Opposition entfesselt wurde, waren dem Kriegsbeginn 1914 öffentliche Auseinandersetzungen vorausgegangen. Europa taumelte keineswegs blindlings in den Abgrund. Warum geschah es aber dann?
Viele Zeitzeugen erinnern die Julikrise als den traumatischen oder triumphalen Abschluss von einer Zeit gesteigerter Nervosität und Aufregung.
Der spätere Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen befand sich am Tag der Mobilmachung auf einer Hamburger Baustelle in der Nähe des Jungfernstiegs. Er schreibt in seinen Lebenserinnerungen, dass er und sein Kollege unvermittelt bemerkten, dass sie allein in dem Neubau waren, denn die Bauarbeiter hatten ihre Arbeitsplätze verlassen, um einem Schauspiel beizuwohnen, das sich auf der Straße abspielte. Kaisen schreibt:
„Eine unübersehbare Menschenmenge wogte hin und her. Sie sang immer wieder das Deutschlandlied (...), dann traten Redner auf, die mit etlichen „Hochs“ und „Nieder“ die Menge zu Begeisterungsstürmen hinrissen. Unter den Bauarbeitern kursierten schon wilde Gerüchte. „Die Russen kommen“ behaupteten die einen (...).
Die Menge schien berauscht zu sein. Sie war offenbar bereit, angesichts des Krieges den Verstand zu verlieren, ohne zu überlegen, wie sehr es gerade jetzt darauf ankam, den eigenen Verstand zu benutzen.“
Wilhelm Kaisens Rückblick auf die Ereignisse ist seinem Charakter entsprechend fast distanziert analytisch – eine mehr traurige, als traumatische Erinnerung. Warum dies so war, lässt seine Bemerkung zu den Tagen und Wochen vor der Mobilmachung, zur Julikrise 1914 erahnen. Zu den Friedenskundgebungen sagt er:
„Diese Kundgebungen waren leider nicht so besucht, wie wir erwartet hatten. Es waren keine „gewaltigen“ Kundgebungen, wie die Legende behauptete, sondern es waren auffallend schlecht besuchte Versammlungen. Dort fehlte bei weitem die Menge, die jetzt bei Kriegsausbruch auf den Straßen und Plätzen hin- und herwogte und den Krieg als eine Erlösung akzeptierte.“
Krieg als Erlösung? Verständlich ist diese für uns befremdliche Deutung nur vor dem Hintergrund einer allgemeinen Erregung, einer nervösen Stimmung, die seit dem Attentat von Sarajewo um sich gegriffen hatte.
Die Stimmung einer anwachsenden Kriegsgefahr lässt sich auch den Bremer Medien des Juli und August 1914 noch heute entnehmen. Mehrere bürgerliche Tageszeitungen, allen voran die Weser-Zeitung, ein großes sozialdemokratisches Blatt, die Bremer Bürger-Zeitung, informierten täglich, oft mit Sonderblättern über das Weltgeschehen. Vor Kriegsausbruch taten sie dies weitgehend frei, auch danach noch mit erkennbarer Meinung.
Wie fassbar der Krieg als Möglichkeit in der Luft lag, zeigt die Weser-Zeitung in ihrer Sonntagsaugabe vom 2. August, dem Tag nach der Mobilmachung, als sie den Bremer Lesern in einem Schaukasten die „Daten zur Vorgeschichte des bevorstehenden Krieges“ lieferte. Die scheinbare Zwangsläufigkeit der Eskalation, trotz angeblich unermüdlicher Anstrengungen zum Erhalt des Friedens, die so unerbittlich feindseligen Nachbarn, all dies wurde vielfach vorgetragen.
Doch wurde es auch geglaubt?
Natürlich war auch in Bremen viel Patriotismus und nationale Zuversicht in der Luft – doch sind markige Worte und die Gewissheit des Krieges zwei Dinge.
Am 2. August versucht ein Kommentator der Weser-Zeitung die Stimmung auf dem Markt und auf den Stufen der Börse einzufangen, um patriotische Zuversicht zu vermitteln. Doch will dies kaum gelingen. Er muss feststellen:
„Wo ist die oft zu junge Begeisterung der ersten Tage geblieben? Ernst, wahre Erkenntnis ist an ihre Stelle getreten. Die Mienen der Vorübergehenden sind starrer, entschlossener geworden. (...) Das Lachen? Es ist scheinbar vergangen.“
Am Montag, dem 3. August meldete dann die Weser-Zeitung in ihrer Mittags-Ausgabe etwas pathetisch ungelenk den „Krieges-Anfang“ – und konnte doch in die einlaufenden Meldungen kaum Ordnung bringen: Telegramme, Gerüchte, erste Gefechte mit Russland, bange Blicke nach Frankreich und England sowie erste Einschränkungen brachen auf die Menschen ein. Dass bereits hier mit der Besetzung Luxemburgs ein erster Bruch des Völkerrechts gemeldet wurde, mag einige Aufmerksame alarmiert haben.
Als die Bremer in der Ausgaben vom 5. August in der Rede des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg lesen konnten, dass nun auch Belgien besetzt werde und dies mit der Abwehr Frankreichs und dem Kampf um die Existenz begründet sei, war der entscheidende Schritt getan.
„Frankreich konnte warten – wir nicht. (...) Wer wie wir um das Höchste kämpft, darf nur daran denken, wie er sich durchhaut.“
Diese wohl fatalste Fehlentscheidung der deutschen Führung hat in der Bremer Presse ein erstaunliches Echo gefunden. Erschrocken mahnte man dort an den Status Belgiens als ein wie die Schweiz „unter internationaler Neutralitätsbürgschaft stehendes Land“. Nun bleibe nur noch „sehnlichst einen guten Ausgang zu erhoffen“. „Sursum corda“ – „die Herzen empor“ schrieb man fast beschwörend und blickte bang auf die Haltung zweier anderer Mitspieler im Innern und im Äußern:
Die Sozialdemokratie und England:
„Die Haltung der Sozialdemokratie, die Haltung Englands“, so fragte die Weser-Zeitung an diesem für die weiteren Wochen so wichtigen 5. August in ihrer Mittags-Ausgabe und konnte auch gleich die Antworten liefern:
Die Illusion einer englischen Neutralität war schon in den letzten Stunden zerstoben und die bisher misstrauisch beäugten Sozialdemokraten standen dennoch zu Kaiser und Reich und stimmten den Kriegsgesetzen zu. Dies wurde auch in Bremen so erleichtert aufgenommen, dass ein patriotischer Beitrag der Bremer Bürger-Zeitung in der Weser-Zeitung nachgedruckt wurde.
Dies war nicht selbstverständlich. Ganz anders als in Wilhelm Kaisens auf Hamburg bezogener Bemerkung über den ausbleibenden Zulauf zu Antikriegsversammlungen, hatte es in Bremen einen solchen gegeben. Nach der Kriegserklärung Österreichs an Serbien titelte die Bürgerzeitung am 29. Juli „Die Kugel ist aus dem Lauf. Der Krieg beginnt“ und berichtete ausführlich von sieben überfüllten Versammlungen in Bremen, wo in der Altstadt und den Stadtteilen Redner vor der drohenden Kriegsgefahr gewarnt hatten. Es war zu Polizeiabsperrungen und Rempeleien mit kriegsbegeisterten patriotischen Nachtschwärmern gekommen – die Situation war durchaus explosiv und angespannt, eben „nervös“ wie dies viele Zeitgenossen sagten.
Die Furcht vor dem Krieg, den man einhellig bereits jetzt als „Weltkrieg“ begriff und bezeichnete, war auch deshalb berechtigt, weil man wusste, dass die Zeit der Kabinettskriege und beschränkten militärischen Aktionen vorbei war. Man wusste auch, welche militärischen Arsenale in Europa aufeinander gerichtet waren.
So prophezeite am 28. Juli ein Antikriegsredner im Bremer Tanzlokal Colosseum:
„Mit den entwickelten technischen Mordinstrumenten werden in kurzer Zeit so schwere Folgen eintreten wie bei dem 30jährigen Krieg.“
Warum widersetzten sich aber dann nicht mehr Menschen der zunächst ja nur diplomatischen Eskalation?
Weil trotz realistischer Einschätzung der Gefahren die politische Positionierung in der Julikrise sehr schwierig war. Es ging eben nicht um die Kollision von Diktatur und Demokratie, sondern um ein hochkomplexes Bündnisgeflecht, in dem Schurken und Lichtgestalten nur schwer zu trennen waren.
So wurden in Bremen Frankreich oder gar England in den entscheidenden Wochen der Julikrise öffentlich viel weniger als Bedrohung wahrgenommen, als vielmehr Russland. Das rückständige Zarenreich war als Polizeistaat und Völkergefängnis das negative Zerrbild aller modernen Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt. So auch in Bremen, wo noch am 29. Juli ein Flugblatt der Bremen SPD feststellte, dass „der Zarismus der gewissensloseste Kriegstreiber“ in Europa sei. Auch bei den Kritikern des deutschen Kaiserreichs oder Österreichs Balkanpolitik rief der Blick auf das Zarenreich ganz erhebliche Ängste wach.
So schauten die Menschen ohnmächtig darauf, dass sich die Großmächte anschickten, die Vorherrschaft in Europa auszufechten. Am 1. August konnten die Leser der Bremer Bürgerzeitung unter der Schlagzeile „Kriegszustand“ die resignierten Worte Walter Rathenaus lesen:
„Sechs Mächte verabscheuen und fürchten den Weltkrieg und wissen doch nicht, wie sie sich seiner erwehren werden.“
Dass die treibenden Mächte hierbei zweifellos Deutschland, Österreich und eben Russland waren, hatte durchaus Gründe: In diesen Monarchien waren die Parlamente schwach und die Militärs hatten mehr Einfluss auf den Herrscher als die Politiker - was manche diplomatische Anstrengung ins Leere laufen ließ. Eine fatale Dynamik kam in Gang. Alle Akteure beteuerten, sich bedroht zu fühlen, schürten innenpolitisch Ängste und verbreiteten Torschlusspanik.
Die Ausrufung des Kriegszustandes am 31. Juli und die deutsche Mobilmachung am 1. August trafen also auch in Bremen eine Bevölkerung, die sich bis weit hinein in die Reihen der Kritiker der kaiserlichen Politik in einem Gefühl massiver Verunsicherung befand.
„Es ist keine Hoffnung mehr. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf.“
So resümierte die Bürgerzeitung am 3. August 1914 und musste zugleich die ersten Meldungen über Truppenbewegungen und Gefechte melden. Ein eindringlicher Text in der Rubrik „Bremisches“, mit „Auf Wiedersehen“ unterschrieben und nicht namentlich gezeichnet, transportiert viel von der nachdenklichen und überhaupt nicht hochfliegenden Stimmung, die in Bremen vorgeherrscht haben dürfte:
„Bremen, den 3. August 1914. Es ist still geworden auf den Straßen. Die meisten Schreier sind verstummt. Am frühen Morgen des Mobilmachungstages zeigten die Straßen ein seltsam feierliches Bild: Unaufhörlich gehen kleinere Trupps von Männern nach dem Innern der Stadt.  (...) alle sind sonntäglich gekleidet, alle gehen stumm dahin. Auf den starren Gesichtern liegt die Erwartung der ungeheuren, drohenden Zukunft. Nur von Zeit zu Zeit ein fragender Blick: Du auch?
Vor den Türen stehen Frauen und Mädchen; derselbe starre Ausdruck liegt in ihren Mienen. (   )„
So die ersten Sätze dieses eindrucksvollen Zeitdokuments, das schon jetzt die eigentliche Ungeheuerlichkeit des Krieges ahnen lässt: Dass er Menschen verschlingt, sie aus Familien reißt und nichts hinterlässt, wie es zuvor war.
Mit der Kriegserklärung an Russland und Frankreich und mit der am 4. August erfolgten Sitzung des deutschen Reichstags sollten nun die Ereignisse ihren Lauf nehmen. Hierzu nur so viel:
Die geschlossene Zustimmung des Reichstags zu den Kriegskrediten – nur 14 SPD-Abgeordnete, darunter der Bremer Henke hatten sich zuvor dagegen ausgesprochen, dann aber unter Fraktionszwang zugestimmt – mag man heute leicht als falsch kritisieren. Doch auch unter denjenigen, die keinem patriotischen Taumel erlegen waren, überwog die Überzeugung, dass eine deutsche Niederlage im nun beginnenden Krieg nur nachteilig für alle sein könnte. So konstatierte die Bremer Bürgerzeitung am 4. August dass, da der Krieg nun einmal da sei, alle Untersuchungen darüber, wer ihn verschuldet hat, zu schweigen hätten:
„Er ist da und muss durchgekämpft werden.“
Für uns steht auch 100 Jahren nach diesen dramatischen Wochen die Frage im Raum, wie es dazu kommen konnte, und wer hierfür Verantwortung trug?
Auch diese Frage hat mittlerweile eine Geschichte, die uns noch immer bewegt – die ZEIT konstatierte vor einer Woche eine aktuelle Jahrhundertflut der 1914-Bücher. Dazu hier nur so viel:
Nach der Niederlage und dem Versailler Vertrag hatte man sich in Deutschland in einer gefühlten Opferrolle eingerichtet, die man bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu verlassen bereit war. Erst die Kontroverse um die Studie des Hamburger Historikers Fritz Fischer „Der Griff nach der Weltmacht“ führte in den 60er Jahren zu einem Umdenken. Die Forschung ist danach zwar überspitzten Thesen von einem von langer Hand geplanten Krieg nicht gefolgt - man spricht auch nicht mehr von einer allein deutschen Kriegsschuld – doch ist die ganz erhebliche Verantwortung Deutschlands für den Kriegsbeginn zurecht Lehrmeinung geworden. Dass dies einer Revision bedürfe, ist auch derzeit nicht zu erkennen. Neue Quellen liegen hierzu nicht vor. Auch die vielzitierte Studie „Die Schlafwandler“ des englischen Historikers Christopher Clark führt solche nicht an. Dennoch ist Clarks minutiöse Studie über den diplomatischen Verlauf der dramatischen Wochen im Sommer 1914 ein enorm wichtiges Buch.
Denn so wenig die wenn nicht alleinige, so doch zentrale Verantwortung Deutschlands in der Julikrise und in der Eskalation im August 1914 von der Hand zu weisen ist, so falsch wäre es, allein den Blick auf die Schuldfrage zu wenden. Gerade weil Clarks Buch keine Schuldzuweisung beabsichtigt, öffnet es uns nochmals die Augen für die Welt im Sommer 1914. Und diese war eben nicht die gute alte Zeit, sondern ein brandgefährlicher Ort.
Ich halte dies für eine zentral wichtige Erkenntnis. Gerade der Blick auf die Defizite der Welt von 1914 muss unser Bewusstsein dafür schärfen, was wir heute an Errungenschaften haben und bewahren sollten, um die Welt für uns und unsere Kinder sicherer zu machen. Hierzu empfehle ich, die schon 1965 durch den unlängst verstorbenen Bremer Historiker Immanuel Geiss edierten Dokumenten zur Julikrise zu lesen. Man kann hier noch immer wertvolle Beobachtungen machen.
So zum Beispiel, dass das Schicksal der Welt damals allein in den Händen weniger Personen – ausschließlich Männer – lag, die ihre verantwortungsvolle Aufgabe oft weder einem objektiven Ausweis ihrer Tüchtigkeit noch einem demokratischen Votum verdankten. Dies galt für alle Monarchen, aber auch für fast alle Politiker, Diplomaten und Militärs. Schlimmer, vielleicht entscheidend: Als diese begannen, sich in kriegerischer Rhetorik in Stellung zu bringen, gab es in Europa keinerlei internationale Institutionen, die eine Vermittlerrolle über Nationen und Bündnisverträge hinweg hätten übernehmen können. Fast alle Akteure behaupteten, zu vermitteln, aber kaum einer tat es wirklich – und wenn, dann nicht ohne Eigennutz.
Für die Julikrise 1914 ist vielfach das Bild von aufeinander zurasenden Zügen bemüht worden, deren Mannschaften sich weder zum Ausweichen noch zum Abbremsen bereit fanden. Dabei hätte es für beides Gelegenheit gegeben. Doch fehlte hierfür der Wille – dies ganz besonders bei den Akteuren der Mittelmächte, die sich von einem schnellen und massiven Konflikt die Lösung ihrer geostrategischen Pläne versprachen.
Es ist erschreckend, aber wahr: Man war eben wenig geneigt, Europa einen Frieden zu erhalten, der zu wenig Nutzen versprach. Dies umso mehr, als die Staatenwelt im Zeitalter des Imperialismus grundsätzlich in Kategorien von Herrschaft und Knechtschaft, Triumph und Untergang dachte.
Etwas Weiteres kam hinzu: Das Fehlen einer festen politischen oder wirtschaftlichen Verflechtung der Staaten. Diese dachten nicht über Militär- und Beistandsbündnisse, dynastische Bande und rein national-egoistische Wirtschafts- und Handelsinteressen sowie koloniale Einflusszonen hinaus.
Dies sollte all jenen zu denken geben, die den Institutionen unserer heutigen hochkomplexen, vernetzten und multinational verbundenen Welt gerne vorschnell die Funktionstüchtigkeit absprechen - wegen ihrer zahllosen Gremien, Ausschüsse, Vetoeinrichtungen, Kommissare und Sekretäre. Wer die Dokumente zum Juli 1914, die Dossiers, Telegramme und Depeschen liest und weiß, welche Wirkung sie entfalteten, der wird erkennen, was uns die heute oftmals gescholtenen Einrichtungen wie UN oder EU wert sein sollten.
Dies ist kein Zufall. Nicht nur die katastrophalen Folgen des Zweiten Weltkriegs, sondern die Summe aller Fehlentwicklungen in Europa nach 1914 hat die Architektur unserer heute noch bestehenden internationalen Sicherheitssysteme bestimmt.
Ganz unmittelbar bei der Gründung des Völkerbundes, aber auch bei der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sehr bewusst auch das Jahr 1914 in den Blick genommen.
Als Mahnung ist es ein Nukleus der friedlichen Transformation Europas.
Auch deshalb ist die Erinnerung an 1914 einem großen und wichtigen Datum unserer europäischen Geschichte gewidmet. Nicht zuletzt deshalb sollte dies gerade von uns Deutschen so wahrgenommen werden.
Es geht dabei nicht um Schuldzuweisung, sondern um die Anerkennung der Tatsache, dass zehn Millionen Kriegstote an den bis dahin tödlichsten Fronten der Weltgeschichte auch und vor allem an deutsche Verantwortung mahnen.
In Frankreich und in Belgien - auch in England - hat man dies nie anders gesehen. In Frankreich markiert 1914 den Beginn des Grande Guerre, des großen Krieges, der die Nation neu schuf. Die Gründe sind vielfältig, sie können hier nicht angeführt werden. Man muss um dieses Empfinden unserer Nachbarn aber wissen, wenn man sich fragt, warum sie im Jahr 2014 dieses Datum so intensiv erinnern.
Daher sollte uns auch hier in Bremen im Jahr 2014 der Rückblick auf 1914 bewusst machen, welche Verantwortung gerade unserem Land im Herzen Europas zukommt.
Und dies nicht nur für Vergangenes, sondern auch für die Zukunft.