Erinnerung an die Opfer der Novemberpogrome
Zum 86. Jahrestag haben Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft sowie Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Religionsgemeinschaften bei einer Gedenkstunde am Mahnmal in der Dechanatstraße der Opfer der Pogrome vom 9. November 1938 gedacht. Die Veranstaltung fand aus Rücksicht auf den Schabbat bereits am Freitag (8. November) statt.
Fünf Bremer Jüdinnen und Juden waren in dieser Nacht von den Nationalsozialisten ermordet worden. Ihre Namen wurden zum Gedenken in den schwarzen Stein graviert. Präsidentin Grotheer erinnerte in ihrer Rede an die Getöteten und bat um eine Schweigeminute.
Grotheer betonte, beim Gedenken an diesen schrecklichen Tag gehe es nicht nur um die Vergangenheit, auch wenn dies wünschenswert wäre. "Wir sprechen auch über das Heute. Denn auch heute fühlen sich Jüdinnen und Juden bedroht. Und sie sind bedroht. Erst heute Morgen müssen wir schockierende Bilder aus Amsterdam sehen, wo nach einem Fußballspiel offenbar gewaltsam Jagd auf israelische Fußballfans gemacht wurde", sagte sie.
"Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass Antisemitismus ein Problem in unserer Gesellschaft ist", so die Bürgerschaftspräsidentin weiter. Und dabei müsse die Entwicklung seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 Sorgen machen. So sei etwa die die Zahl antisemitischer Straftaten bundesweit deutlich angestiegen. Eine enorme Gefahr gehe dabei von Rechtsextremisten aus, das habe nicht zuletzt die Verhaftung der mutmaßlichen Terrorgruppe, die sich „Sächsische Separatisten“ nannte, wieder deutlich gezeigt.
Doch sei Antisemitismus kein Randphänomen und lasse sich nicht auf eine bestimmte politische Gesinnung beschränken. "Vor allem aber sind es keine Einzeltäter", betonte Grotheer. "Antisemitismus ist ein weit verbreitetes Problem in einem immer größeren Teil unserer Gesellschaft. Es fängt schon dort an, wo wir ihn relativieren oder eine Relativierung zulassen. Wo wir einem 'Ja, aber' nicht widersprechen. Und deswegen sind wir auch alle gefordert und alle in der Verantwortung. Deswegen müssen wir alle hinterfragen, wie dieser Antisemitismus zustande kommt. Wodurch er befördert wird. Wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Und wir müssen umso entschiedener gegen jegliche Form von Antisemitismus vorgehen. Dem beiläufig in einem Gespräch fallengelassenen Ressentiment ebenso wie dem offen formulierten Angriff."
Als Gastrednerin hatte die Bürgerschaft in diesem Jahr Dr. Anastassia Pletoukhina eingeladen. Die Sozialwissenschaftlerin ist leitende Repräsentantin der Jewish Agency for Israel in Berlin und gehört zu den Überlebenden des antisemitischen Anschlags auf die Synagoge in Halle (Saale) im Jahr 2019. Plethoukina berichtete eindrücklich, wie sie den Anschlag erlebt hat und dass sie sich in Deutschland immer unsicherer fühlt. "Die jüdische Gemeinde in Deutschland ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich bewusst entschlossen haben, nach Deutschland zu ziehen oder nach der Vertreibung zurückzukehren. Immer wieder stellen wir uns die Frage, ob es die richtige Entscheidung war. Auch jetzt, nach dem 7. Oktober 2023, steht diese Frage im Raum. Studierende sind an den Universitäten nicht sicher, jüdische Institutionen ebenso wenig – auch israelische Restaurants und sogar Kneipen werden brutal und lebensbedrohlich angegriffen", sagte sie.
"Wir sind alle verwundbar geworden. Unsere Demokratie ist verwundbar geworden", sagte Platoukhina und appellierte: "In meinem Schlussplädoyer im Prozess gegen den Attentäter von Halle habe ich gesagt, dass ich mich als Frau, als Migrantin und als Jüdin jeden Tag für Deutschland entscheide, weil ich weiterhin an unsere Demokratie glaube. Und heute? Waren all die Kämpfe für Vielfalt und gegen den Hass der vergangenen Jahre umsonst? Ich denke nicht. Und deshalb stehe ich hier, obwohl ich ehrlich sagen muss, dass ich mich gerade jetzt nicht sicher fühle. Ich stehe trotzdem hier. Weil wir nicht aufhören dürfen, miteinander zu sprechen, einander zuzuhören und die Komplexität dabei auszuhalten – im Sinne einer wehrhaften Demokratie."
Auch in diesem Jahr kooperierte die Bürgerschaft bei der Gestaltung der Gedenkveranstaltung zudem mit einer Schule. Schüler:innen der Arbeitsgemeinschaft "Demokratisch Handeln, Partizipation und Resilienz" des Gymnasiums Horn stellten mit einem Vortrag und einer Performance ihre Arbeit vor.
Gemeinsam mit den Vizepräsidentinnen Sahhanim Görgü-Philipp und Christine Schnittker legte Grotheer einen Kranz am Mahnmal nieder. Landesrabbiner Netanel Teitelbaum schloss die Veranstaltung mit zwei Gebeten und einer kurzen Ansprache.
Die Reden von Präsidentin Grotheer und Dr. Anastassia Pletoukhina sind als Anhang verfügbar